Achtung! Eyetracking oder kein Eyetracking für die Bewertung der Benutzerfreundlichkeit

Die UX Research Toolbox

by Philipp Ehrle • 7min read

Eyetracking als Bewertungsmethode

Eyetracking ist ein gängiges Instrument zur Aufzeichnung des Blicks von Personen. Ziel ist es, die visuelle Aufmerksamkeit zu untersuchen, indem Augenbewegungen, Fixierungen, ihre Dauer und Abfolge untersucht werden. Dies ermöglicht die Untersuchung des komplexen Zusammenspiels zwischen visuellen Elementen und der räumlichen Orientierung von Personen. Die Anwendungsbereiche sind vielfältig; es wird unter anderem in der Werbung, der Produktentwicklung und der wissenschaftlichen Forschung eingesetzt. So ist Eyetracking beispielsweise in der Automobilindustrie ein etabliertes und hoch standardisiertes Instrument zur Messung des Sehverhaltens während der Fahrt, wie die internationale Norm ISO 15007:2020 zeigt.

Eyetracking lockt mit objektiven, zuverlässigen Daten und verspricht damit eine klare Ableitung von Handlungsempfehlungen. Zudem bietet es aufgrund des technologischen Fortschritts mittlerweile eine gewisse Flexibilität bei der Aufzeichnung. Mobile Apps, Websites und physische Produkte können getestet werden, da je nach Anwendung ein kopfgetragenes oder ferngesteuertes Eyetracking-System gewählt werden kann.

Doch wie relevant ist Eyetracking wirklich für die Produktentwicklung, die auf benutzerfreundliche interaktive Systeme abzielt? Für die Usability-Evaluation stellt sich die Frage: Eyetracking oder kein Eyetracking?

Die umständlichen Anfänge des Eyetrackings in einer Studie von Shackel im Jahr 1960 (Note on Mobile Eye Viewpoint Recording, https://www.researchgate.net/publication/9143696_Note_on_Mobile_Eye_Viewpoint_Recording). Im Laufe der Zeit gab es glücklicherweise spürbare technische Fortschritte für die Studienteilnehmer in Bezug auf das Gewicht und die Aufdringlichkeit des Eyetracking-Systems.

Die wertvollen Einblicke des Eyetracking

Eyetracking liefert eine Vielzahl von Daten, sowohl standardisierbare Metriken wie Blickdauern und Blicksequenzen als auch intuitive Visualisierungen wie Heatmaps, Opazitätskarten und Blickdiagramme.

Heatmap, Opazitätskarte und Gazeplot (https://www.usability.de/leistungen/ux-testing-nutzerforschung/eyetracking.html)

  • Was nehmen Nutzer wahr, und was übersehen sie?

  • Welche Texte überfliegen Nutzer, und welche lesen sie?

  • Was lenkt Nutzer ab?

  • Was sind die Ursachen für Nutzungsfehler und Beinahe-Pannen?

  • In welcher Reihenfolge nehmen Nutzer Inhalte wahr?

  • Warum benötigen Nutzer so viel Zeit?

  • Wie benutzerfreundlich sind Navigation und Layout?

  • Wie unterscheiden sich zwei Produkte oder Designs voneinander?

Mit solchen Fragen hat die UX-Forschung in der Vergangenheit einige interessante Erkenntnisse durch Eyetracking gewonnen:

  • Muster-Scanning: Menschen scannen Websites nach bestimmten Mustern. Das Muster hängt von der Art des Inhalts und dem Ziel der Person ab. Das bekannteste und am häufigsten zitierte ist wahrscheinlich das F-Muster. Jedoch sind das Layer-Cake-Muster und das Spotted-Muster ebenfalls relevant. (https://www.nngroup.com/articles/f-shaped-pattern-reading-web-content/)

  • Das Phänomen der Liebe auf den ersten Blick: Menschen streben nicht immer die bestmögliche Lösung an. Besonders bei visuellen Informationssuchen auf Websites hat sich gezeigt, dass ein großer Teil der Menschen mit dem ersten Ergebnis zufrieden ist und nicht weiter sucht. (https://www.nngroup.com/articles/love-at-first-sight-pattern/)

Aber was ist mit Fallstricken, Herausforderungen und Einschränkungen?

Begrenzte Aussagekraft und schwer interpretierbare Daten

Usability wird üblicherweise anhand von Effektivität, Effizienz und Zufriedenheit gemessen. Eyetracking liefert jedoch nur Einblicke in potenzielle Probleme bei Effizienz und Effektivität und kann keine Aussagen über Zufriedenheit treffen. Daher wird empfohlen, die Methode in Kombination mit qualitativen Usability-Tests und Think-Aloud-Techniken zu verwenden.

Zudem zeigt Eyetracking nur die foveale Blickrichtung, nicht die periphere Wahrnehmung oder kognitive Aufmerksamkeit. Wenn ein Nutzer ein Element betrachtet, ist nicht klar, ob er dessen Bedeutung verstanden hat. Eine zeitliche Beobachtung kann hier jedoch informativ sein. Ebenso ist unklar, ob ein ignoriertes Element bereits in der peripheren Sicht wahrgenommen und als für die Aufgabe unwichtig eingestuft wurde (https://www.interaction-design.org/literature/article/eye-tracking-ux). Dies stellt einen blinden Fleck in der Methode dar.

Außerdem verlagerte sich der Fokus in der Datenanalyse schnell auf visuelle Darstellungen wie Heatmaps, da diese für viele Menschen intuitiv zugänglich sind. Diese sind jedoch schwer zu standardisieren und kontextabhängig, was sie schwer interpretierbar macht. Die objektiven und gut standardisierbaren Daten, die eigentlich den Hauptwert von Eyetracking darstellen, erhalten weniger Aufmerksamkeit als sie verdienen.

Hoher Fachkenntnisbedarf

Das Blickverhalten von Einzelpersonen wird stark durch die Aufgabe und das gegebene Szenario beeinflusst (Yarbus, 1967, Eye Movements and Vision, https://link.springer.com/book/10.1007/978-1-4899-5379-7). Deshalb sollten Eyetracking-Studien geplant und durchgeführt werden, um valide Daten zu erhalten. Doch auch nach der Datenerhebung liegt zunächst eine große Menge an unstrukturierten Daten vor. Moderne Eyetracker erfassen über 7.500 Messwerte pro Minute. Diese müssen zunächst verarbeitet, analysiert und interpretiert werden, bevor konkrete Handlungsempfehlungen für ein Produkt abgeleitet werden können. Dadurch ist ein hohes Maß an Fachkenntnis für Eyetracking-Studien notwendig.

Das Blickverhalten von Einzelpersonen wird stark durch die Aufgabe und das spezifische Szenario beeinflusst (siehe Yarbus, 1967). Das bedeutet, dass Eyetracking-Studien von Experten geplant und durchgeführt werden sollten, um die Genauigkeit und Validität der Daten zu gewährleisten. Ohne ordnungsgemäße Planung könnten die Ergebnisse das beabsichtigte Nutzerverhalten nicht widerspiegeln.

Selbst nach der Datenerhebung stehen Forscher vor einem hohen Volumen unstrukturierter Daten. Moderne Eyetracker können über 7.500 Messwerte pro Minute erfassen, was bedeutet, dass die Daten verarbeitet, analysiert und interpretiert werden müssen. Dieser Schritt erfordert ein hohes Maß an Fachkenntnis, um sicherzustellen, dass die gewonnenen Erkenntnisse umsetzbar und relevant für das Produktdesign sind.

Hohe Kosten und Aufwand

Der größte Aufwand bei Eyetracking-Studien entsteht durch die Teilnehmer. Sie müssen rekrutiert, incentiviert und durch die Studie geführt werden. Jakob Nielsen empfiehlt mindestens 30 Teilnehmer (Nielsen, Pernice, 2009, Eyetracking Web Usability, https://dl.acm.org/doi/10.5555/1823564). Da jedoch auch Fehler auftreten können, wie z. B. nicht aufgezeichnete Daten, ist es besser, 40 Nutzer einzuplanen. Es besteht auch die Möglichkeit, kleinere qualitative Studien mit einer Stichprobengröße von 5-10 Teilnehmern durchzuführen. Dies eliminiert jedoch die inferenzstatistische Validierung des Designs. Stattdessen erlauben die Daten die Ableitung von Hypothesen über das Design, die im weiteren Entwicklungsverlauf validiert werden müssen.

Ein weiterer Punkt für die Ausgaben sind die Tools; Software und Hardware. Dazu gehören Anschaffungskosten, Einrichtung und Pilotversuche. Technische Schwierigkeiten treten immer auf. Daher sollten ausreichende Zeitpuffer eingeplant werden.

Die Einrichtung umfasst auch die Kalibrierung. Diese kann sich zwischen verschiedenen Personen als schwierig erweisen; beispielsweise ist die Erfassung bei Personen mit ausdrucksstarker Mimik herausfordernder. Unterschiedliche Augenformen und - größen sowie Brillen erschweren ebenfalls die Kalibrierung. Während der Aufnahme muss der Teilnehmer bei einem Remote-Eyetracking-System kontinuierlich eine ähnliche Position beibehalten. Ansonsten geht die Kalibrierung verloren. Es sollte jedoch beachtet werden, dass die Kalibrierung durch technologische Fortschritte im Laufe der Zeit viel einfacher geworden ist.

Also… Eyetracking oder kein Eyetracking?

Wie immer im Design lautet die Antwort... es kommt darauf an. In den richtigen Händen und mit der passenden Forschungsfrage kann Eyetracking von großem Nutzen sein. Es kann eine völlig neue Verhaltensdimension in die Usability-Tests einbringen, die besonders aufschlussreich sein kann, da sie Usability-Probleme aufzeigt, die mit herkömmlichen Beobachtungs- und Befragungsmethoden verborgen bleiben würden. Gleichzeitig hat die Methode blinde Flecken, die durch andere Methoden ausgeglichen werden sollten.

Jakob Nielsen stellt ebenfalls die Frage und beantwortet sie selbst: "Sollten Sie Eyetracking in Ihren Usability-Studien einsetzen? Wahrscheinlich nicht." Er rät den meisten Unternehmen davon ab, Eyetracking zu verwenden. Falls die Methode angewendet werden soll, empfiehlt er, auf Experten zurückzugreifen.

Der entscheidende Faktor, ob Eyetracking sinnvoll ist, hängt davon ab, welches Produkt mit welchem Ziel bewertet werden soll. Besonders für kritische Bereiche mit Sicherheitsrisiken oder komplexen Nutzungskontexten ist Eyetracking ein wichtiges Werkzeug im Methodenkasten. Die Branchen Automobil, Luftfahrt, Militär und Medizintechnik kommen einem in den Sinn. Für einfache Marketing-Websites wird eine Eyetracking-Studie selten das Kosten-Nutzen-Verhältnis rechtfertigen. Es gibt jedoch Bestrebungen, kostspielige Teilnehmerstudien durch einen Klick unter Nutzung großer Datenbanken und KI zu ersetzen (z.B. https://www.neuronsinc.com/). Ob diese Tools über eine grundlegende Analyse der visuellen Hierarchie hinausgehen, bleibt abzuwarten. Für die Usability-Bewertung komplexer, sicherheitskritischer Systeme wird dies in den meisten Fällen nicht hilfreich sein. Diese Systeme und ihre Anwendungsfälle sind zu individuell und zu komplex. Doch werden wir sehen, wie technologische Fortschritte im Bereich der KI uns aufs Neue überraschen werden.

Dieser Artikel steht als schön formatierte PDF-Datei zum Download bereit, die für ein angenehmes Leseerlebnis sorgt und sich hervorragend für Präsentationen eignet. Schicken Sie uns einfach eine e-mail an: hellothere@newspective.design

Philipp Ehrle

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